Forum Magazine - Volker Thomas - Leben mit Checkpoints, ein Panorama-Restaurant in Ramallah, ein Buchladen, bei dem ungewollte Lücken klaffen, verbrannte Kibbuz-Felder an der Grenze zum Gazastreifen: In Israel wird der Ernstfall zum Alltag. Und das schon seit 70 Jahren.

Der israelische Soldat starrt der schwangeren Frau auf den Bauch. Sie muss ihren Pullover hochziehen. Noch weiter, fordert er sie auf, und noch ein Stück. Ein anderer tastet sie ab. Die Frau hat einen etwa zehnjährigen Sohn an der Hand. Sie ist Palästinenserin, will durch einen Kon­trollpunkt aus dem Westjordanland nach Israel. Der Frau ist das peinlich, dass sie fast entkleidet wird, ihrem Sohn steigt die Zornesröte ins Gesicht. Am Ende wird sie durchgewunken.

Gad Lior hat die Szene erzählt. „Was denken Sie, was in dem Jungen vorgeht? Das könnte der Terrorist der Zukunft sein!", ruft er aus. Gad Lior ist leitender Redakteur bei „Yedioth Ahronoth", der mit 800.000 Exemplaren zweitgrößten israelischen Tageszeitung. Die Szene wirft ein Schlaglicht auf das Verhältnis der beiden Völker: Einerseits gab es Selbstmordanschläge, bei denen Frauen ihren Sprengstoffgürtel durch eine vorgetäuschte Schwangerschaft tarnten, also ist man vorsichtig. Andererseits ist es eine für eine Muslimin unerträgliche Missachtung, vor einem Mann ihren Körper entblößen zu müssen.

Gad Lior ist kein Regierungsgegner – seine Zeitung ist gemäßigt konservativ. Sie war lange Zeit die am meisten verbreitete in Israel. Bis vor zehn Jahren „Israel HaYom" auf den Markt kam, eine kostenlos verteilte Tageszeitung nach dem Vorbild von USA Today. Gründer, Besitzer und Geldgeber ist der US-amerikanische Unternehmer und Multimilliardär Sheldon Adelson, ein Freund des israelischen Premierministers Benjamin (Bibi) Netanjahu. Israelische Medien spotten, sie solle sich doch lieber gleich in „Bibi-Zeitung" umbenennen. „Israel HaYom" vertiefe mit ihrer bedingungslosen Unterstützung des Premierministers und seiner Politik die Spaltung, ist Gad Lior überzeugt.

Die Sprachlosigkeit, die Angst voreinander und das Misstrauen prägen die israelische Gesellschaft – das ist Gad Liors Thema. In Tel Aviv interessiere sich kein Mensch dafür, was im Gazastreifen oder im Westjordanland passiert. An israelischen Schulen wird als zweite Fremdsprache Englisch oder Französisch unterrichtet, kaum ein Schüler lernt Arabisch, obwohl in Israel selbst rund 1,1 Millionen israelische Araber leben – 20 Prozent der Bevölkerung. Die Grenze zwischen West- und Ost-Jerusalem gibt es seit 1967 nicht mehr. Doch weder gehen die Israelis auf die palästinensische noch die Araber auf die jüdische Seite. Mit Jordanien und Ägypten hat Israel Frieden geschlossen, aber man besucht sich nicht gegenseitig, es gibt keine Nachbarschaft, es ist ein „kalter Frieden". Gad Lior könnte noch weitere Beispiele aufzählen.

Ahmad Muna ist Buchhändler. Sein Laden in Ost-Jerusalem ist sogar im „Lonely Planet" aufgeführt, als der einzige „Bookshop in Israel and Palestine". Heute hat er geschlossen, die Palästinenser streiken wegen des israelischen Vorgehens am Gazastreifen. Für uns hat er trotzdem den eisernen Rollladen hoch gemacht. In dem kleinen Café, das zu dem Laden gehört, gibt es sogar Espresso. Ahmad Muna bietet eine reiche Auswahl an Titeln an, die den Nahostkonflikt von allen Seiten beleuchten. Doch nicht jedes Buch, sagt er, könne er seinen Kunden besorgen. Die Post ist staatlich, und das bedeutet, sie untersteht den Israelis. „Da werden Büchersendungen zurückgehalten oder beschlagnahmt, je nach Laune", klagt er.

Nur ein Beispiel für die vielen Schikanen und Diskriminierungen, denen die zwei Millionen Palästinenser im Westjordanland und in Ost-Jerusalem ausgesetzt sind: Sie dürfen Straßen, die den Siedlern vorbehalten sind, nicht benutzen. Ihre Dörfer werden durch Zäune und Mauern von den benachbarten israelischen Siedlungen abgetrennt. Wer sich längere Zeit im Ausland aufhält, gerät in Gefahr, dass sein Besitz und sein gepachtetes Land von Israel beschlagnahmt werden. Israelische Baufirmen bauen entlang der Grünen Grenze (der Waffenstillstandslinie von 1967) immer neue Siedlungen, ein Beispiel ist die Reißbrettstadt Harish, angelegt für 50.000 Menschen. Das palästinensische Dorf auf dem Olivenhügel gegenüber wirkt dagegen winzig. Rund 300.000 palästinensische Arbeitskräfte pendeln jeden Tag über die Checkpoints nach Tel Aviv oder Jerusalem. Wegen der Kontrollen müssen sie nachts um zwei oder drei schon da sein, damit sie ihren Arbeitsplatz am Morgen erreichen können. Für Israels Bauwirtschaft und das Dienstleistungsgewerbe sind sie unverzichtbar, ohne sie würde vieles nicht mehr funktionieren. Trotzdem dürfen Palästinenser den Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv nicht nutzen, sie müssen nach Amman, wenn sie wegfliegen möchten. Der einzige palästinensische Flughafen bei Rafah im Gazastreifen wurde von den Israelis unbrauchbar gemacht. Die Wasserversorgung untersteht der israelischen Verwaltung, die die palästinensischen Gebiete allerdings zu höheren Preisen als in Israel beliefert.

Aufschwung in Ramallah

Ahmad Muna, der Buchhändler, sieht pessimistisch in die Zukunft: „Wir können nichts machen, die Palästinenser sind abgemeldet, Israel ist allein am Drücker. Unser Präsident Mahmud Abbas hat genauso wenig Macht wie ich, es ist hoffnungslos."

Und dennoch: Wer mit Suleiman Abu-Dayyeh durch Ramallah fährt, sieht neue Hochhäuser, internationale Hotels, Shoppingcenter, moderne Cafés – es wird an jeder Ecke gebaut. Die wachsende 150.000-Einwohner-Stadt, keine zehn Kilometer von Jerusalem entfernt, ist der Sitz von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Er residiert in einem Museum, das dem wie einen Heiligen verehrten Palästinenserführer Yassir Arafat gewidmet ist.

Suleiman arbeitet für die Friedrich-Naumann-Stiftung in Jerusalem. Er hat eine Ost-Jerusalemerin geheiratet und wartet seit 25 Jahren darauf, selbst offizieller Einwohner von Jerusalem zu werden. Seit drei Monaten ist er illegal im Land, weil die Israelis seine Aufenthaltserlaubnis noch nicht verlängert haben, was aber stillschweigend geduldet wird. „So frei sind wir Palästinenser im eigenen Land", spottet der Wirtschaftswissenschaftler, der in Bonn studiert hat.

Wir stehen im achten Stock eines Hochhauses, in einem Restaurant mit einem fantastischen Rundblick auf die Stadt, und unterhalten uns mit dessen Besitzer. Der erzählt, dass er vier Jahre in New York gearbeitet hat. Er ist in seine Heimat zurückgekehrt und fühlt sich dank guter Umsätze in Ramallah wohl. Weil er Christ ist, darf er auch Alkohol ausschenken. Ramallah war einmal zur Hälfte von christlichen Arabern bewohnt. Heute sind es viel weniger, aber viele kommen auch zurück. „Wir wollen doch alle irgendwie in Frieden leben", sagt er, „in einem Staat oder zwei." In der palästinensischen Stadt investieren Milliardäre aus den Golfstaaten, viel Geld kommt auch von den Palästinensern, die im Ausland arbeiten, zurück. Seit die israelische mit der palästinensischen Polizei zusammenarbeitet, ist die Terrorgefahr zurückgegangen.

Ein Zeichen setzt auch der palästinensische Multimillionär Bashar Masri mit dem Bau der Musterstadt Rawabi wenige Kilometer von Ramallah entfernt. Mit Geld aus Ölvorkommen in Katar entsteht in Kooperation mit der Autonomiebehörde eine Musterstadt, in der einmal 35.000 bis 50.000 Menschen leben sollen. Masri plädiert für Aufbau statt bewaffneten Widerstand, Initiative statt Opfertum, Toleranz statt Hass – und er scheint damit Erfolg zu haben.

Etwa 300 Meter vom Gazastreifen entfernt dreht ein Traktor Runden über das Feld. Der Wind steht westwärts, Drachen kommen heute nicht über die Grenze. Baruch Cohen, Sicherheitsbeauftragter des Kibbuz Magan und Oberst der Reserve, verteilt Ferngläser. Cohen kennt die Drachen, die aus dem Gazastreifen herüberwehen. Sie tragen Brandbomben mit sich, auch schon mal scharf gemachte Granaten oder Minen. Zum Beweis zeigt er auf die schwarz verbrannen Felder in der Nähe. Vor Kurzem haben sie zwei Tunnel gefunden, die so groß waren, dass man mit dem Motorrad durchfahren konnte. Es gibt einen Plan, den Tunnelbau mit einer 35 Meter in die Erde versenkten Mauer zu stoppen, 65 Kilometer lang – ein Wahnsinnsvorhaben.

Die Hamas in Gaza will Israel vernichten

Was an dieser Grenze, die den Gazastreifen in ein offenes Gefängnis verwandelt hat, passiert, regt die ganze Welt auf. Allein am Naqba-Tag, dem Tag der Rückkehr, erschießt die israelische Grenzpolizei über 50 Menschen. Mehr als 1.000 werden verletzt. Baruch Cohen kennt den Alltag an seinem Grenzabschnitt. Er hat mehrmals erlebt, wie zuerst Autoreifen angezündet wurden. Schwarzer Rauch verhüllt das Geschehen, Gestalten sind nur undeutlich auszumachen. Er sagt, dass Frauen und Kinder von Hamas-Aktivisten nach vorne an den Zaun geschickt würden. Dann flögen Steine, Molotowcocktails – und die Soldaten auf der israelischen Seite schössen zurück. Niemand weiß, was das eigentlich bewirken soll: Selbst ein Grenzdurchbruch an einer oder mehreren Stellen würde von der Armee umgehend gestoppt.

Baruch schüttelt den Kopf. Für den alten Soldaten ist die Hamas allein schuld an der Lage. „Von den zwei Millionen Palästinensern im Gazastreifen wollen doch 1,9 Millionen nichts anderes als Arbeit und ein friedliches Leben", meint er. Würde die Hamas ihre starrsinnige Haltung, Israel zu vernichten, aufgeben, wäre der Konflikt ganz schnell vorbei.

Auch eine langjährige Korrespondentin wie Susanne Knaul weiß nicht so genau, was diese Proteste an der Grenze bewirken sollen. „Die Hamas hat wohl einmal auf eine Gesamtbewegung der Palästinenser gehofft", meint sie. „Aber das hat wegen der ewigen Streitigkeiten mit der Fatah nicht funktioniert." Den Grenzsoldaten bleibe nichts übrig, als ihre Grenze zu schützen. Und der notleidenden Bevölkerung im Gazastreifen so gut es geht zu helfen.

Tatsächlich liefert Israel – gegen Bezahlung – täglich über eigene Grenzübergänge alles an Waren, was in Gaza gebraucht wird – außer Waffen, Sicherheitstechnik und Beton. Täglich fahren 300 bis 600 Lkw an die Grenze und schlagen die Waren um. Zudem leiste sein Kibbuz medizinische Hilfe, sagt Baruch Cohen. Kranke, denen in Gaza nicht geholfen werden kann, würden von Sanitätsfahrzeugen an der Grenze angeholt und in israelische Hospitäler gebracht.

„Ich sehe nicht, was einen Krieg zwischen Israel und dem Iran noch verhindern kann", mahnt Oded Eran vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien an der Uni von Tel Aviv. „Es gibt weder eine Hotline noch so etwas wie ein rotes Telefon." Oded Eran bringt die israelische Kriegsangst auf den Punkt. Der ehemalige Nato-Botschafter seines Landes hält das Abkommen mit dem Iran, das Donald Trump aufgekündigt hat, für eine schlechte Vereinbarung, weil es die militärischen Operationen des Irans im Libanon, in Syrien und im Irak nicht berücksichtigt. „Auf Israel sind Tausende von in Syrien stationierten Raketen gerichtet, die Tel Aviv und Jerusalem treffen können", warnt er. „Iran hat die Hisbollah mit modernsten Waffen ausgerüstet." Bisher galt, dass Israel die Kassam-Raketen aus dem Gazastreifen durch sein computergestütztes Raketenabwehrsystem „Iron Dome" abfangen konnte. Das wird bei einem massiven Angriff der mit Iran verbündeten Hisbollah-Milizen schwierig.

Wie das aussehen könnte, hat sich Mitte Mai gezeigt: Mutmaßlich die Hisbollah schoss 20 Raketen auf einen Militärposten auf den Golanhöhen ab, keine traf laut Armee ihr Ziel. Israel schlug sofort mit 28 Kampfflugzeugen zurück. Verteidigungsminister Avigdor Lieberman erklärte danach, fast die gesamte iranische Infrastruktur in Syrien sei bombardiert worden. Die Zahl der Toten soll nach unbestätigten Berichten bei mehr als 20 liegen.

Noch sind es Nadelstiche – was genau an der Grenze passiert ist, unterliegt in Israel der Militärzensur. „Wir müssen bereit sein für eine Eskalation", sagt der ehemalige General Udi Dekel, der das Sicherheitsinstitut als Geschäftsführer leitet. Er war in seiner aktiven Zeit Leiter der Planungsabteilung des Generalstabs der Armee und pocht darauf, dass Israel die Kontrolle in der Hand halten müsse.

Vor diesem Hintergrund wird der Konflikt mit den Palästinensern um die Westbank zum Nebenwiderspruch. Für ihn ist die Einigung mit der palästinensischen Autonomiebehörde auf eine Zweistaatenlösung nur eine Frage der Zeit. Immerhin plädierten mehr als 70 Prozent der Israelis für dieses Modell.

Währenddessen bereitet sich Israel wie fast immer in seiner 70-jährigen Geschichte auf den Ernstfall vor. Öffentliche Schutzräume gibt es in jedem Gebäude, das Alarmsignal kennt jeder. Alle Neubauten müssen laut Gesetz eigene Schutzräume bekommen. Werden Altbauten saniert, gilt dasselbe. Auch für die Hochhäuser, wie sie in Tel Aviv gerade gebaut werden, gilt, dass für jede Wohnung eine am Stahlskelett verankerte Betonkammer vorhanden sein muss.

Ist der Krieg mit dem Iran unvermeidlich?

Die Siedlung Efrat bei Bethlehem – das sind Judäa und Samaria, uraltes biblisches Land. Efrat liegt heute im Westjordanland. Nach dem Oslo-II-Abkommen gehört der Ort zur Zone C, die unter israelischer Kontrolle steht.

Mit dem „Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen" von 1995 wurden die Gebiete des Westjordanlandes in drei Zonen unterteilt: die Zonen A, B und C. Die A-Zone (heute rund 18 Prozent des Gesamtgebiets mit rund der Hälfte der Gesamtbevölkerung) steht unter palästinensischer Zivil- und Sicherheitsverwaltung und umfasst große Städte wie Ramallah und Jenin. Die B-Zone (ebenfalls rund 18 Prozent des Landes mit 40 Prozent der Bevölkerung) untersteht palästinensischer Zivilverwaltung, aber gemeinsamer israelisch-palästinensischer Sicherheitskontrolle. Die größte Zone C bildet die einzige zusammenhängende Landmasse. Sie besteht vor allem aus dünn besiedelten Landstrichen, palästinensischen Dörfern und israelischen Siedlungen. Ursprünglich war das Oslo-II-Abkommen für eine Übergangsperiode von fünf Jahren gedacht. An seinem Ende sollte ein souveräner palästinensischer Staat stehen. C-Gebiete sollten schrittweise in A- und B-Gebiete umgewandelt werden. Dieser Schritt ist bis heute nicht erfolgt.

Efrat wurde lange vor Oslo bereits 1980 von Siedlern gegründet. 1994 lebten hier 4.650 Einwohner. Heute sind es rund 15.000. Sie kommen aus allen möglichen Ländern, sagt Bob Lang, Leiter des Religiösen Rats in Efrat. Er selbst ist 1975 aus New York nach Israel eingewandert. Wenn man ihm zuhört, lebt er in einer Mustersiedlung mit drei Highschools, 24 Kindergärten und einem großen Sport- und Gemeindezentrum. Strom, Gas, Wasser, das Internet kommen von Israel. „In unserem Supermarkt kaufen Israelis und Palästinenser gemeinsam ein", betont er, und dass sie keine Zäune haben wollten zu den drei arabischen Siedlungen um Efrat herum. Doch das israelische Oberste Gericht bestand darauf. „Wir glauben, dass wir hier alle das Recht haben, in unserem Land zu leben." „Unser" Land?

Siedler wie Bob Lang fackeln da nicht lange. Im Grunde seien doch alle für Frieden und Verständigung, wischt er die Konflikte weg. Schließlich siedle man ja in einem historischen Umfeld, das seit Abrahams Zeiten jüdisch war. „Die Bibel ist mein Geschichtsbuch", ruft er aus. Und die Lösung für alle zusammen heißt „Education" – alle müssen lernen. Fragt sich am Ende nur: Wer von wem?

 

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