Westjordanland Erst die Stadt, dann der Staat – Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/6416388 ©2018
Baustelle Rawabi: Von den 650 Eigentumswohnungen, die in der ersten Bauphase hier entstehen, sind zwei Drittel schon verkauft.
Berliner Zeitung - Von Inge Günther - Rawabi - Die Lage sagte Siraj Tarik auf Anhieb zu: „Traumwohnung am Hang mit grandioser Aussicht! Stadtzentrum, Shopping Mall und Amphitheater in wenigen Fußminuten erreichbar! Apartments jeder Größe, individuell gestaltbar, mitten in Palästina!“, hieß es in der Anzeige. Und dann der Preis: Weniger als tausend Dollar pro Quadratmeter – erheblich billiger als im nahen Ramallah. „Es war der schnellste Entschluss meines Lebens“, sagt der 36-jährige Palästinenser strahlend und wedelt mit dem Kaufvertrag. „15 Minuten, und ich hatte mich entschieden. “
Seit zehn Jahren arbeitet Siraj Tarik als Bankmanager in Dubai. In nicht allzu ferner Zukunft will er ins Westjordanland zurückkommen. „Das ist definitiv“, bekräftigt er. Hier in Rawabi hat er sich, seiner Frau und den drei Kindern nun schon einmal das künftige Heim gesichert. Ende des Monats wird Richtfest gefeiert in dieser ersten am Reißbrett entworfenen Stadt Palästinas, die zu zwei Dritteln mit Geldern aus Katar und zu einem Drittel von dem Baukonzern Massar International vorfinanziert wird. Zum Jahresende soll das erste Stadtviertel bezugsfertig sein.
An Nachfrage herrscht kein Mangel. Täglich pilgern Kaufinteressenten und andere Neugierige in den ultramodernen Showroom, einen Glaspalast oben auf dem Hügel – Arabisch: Rawabi –, der der Stadt den Namen gibt. Gleich drei arabische Banken haben an Ort und Stelle Filialen aufgemacht und bieten Darlehensberatung an. Ein paar Meter weiter steht der städtische Masterplan als Modell. „Dort“, sagt Siraj Tarik und deutet auf eines der Klötzchen, „werden wir einmal wohnen.“ Prunkstück der Ausstellung ist ein Film in 3D, in dem man im Zeitraffer sehen kann, wie Rawabi in die Höhe wächst.
Einspuriger Engpass
Draußen dröhnen derweil die Presslufthämmer auf der größten Baustelle, die es in Palästina je gab. Das Fundament der neuen Stadt muss in den Fels gehauen werden. Der Rohbau des City Centers ragt bereits neun Stockwerke hoch. Breite Betontreppen verbinden die Fußwege am Steilhang. Klotzige Apartmentblocks erinnern an israelische Großsiedlungen – nur dass der Naturstein aus dem eigenen Steinbruch, mit dem die Fassaden in Rawabi verkleidet werden, hier „Gold of Palestine“ heißt. Von den 650 Eigentumswohnungen der ersten Bauphase sind sechzig Prozent bereits vergeben.
„Diese Stadt ist ein Fakt, an dem keiner vorbeikommt“, sagt Baschar Masri, während er durch das Panoramafenster im Showroom auf den Baustellentrubel schaut. Der palästinensische Unternehmer mit US-amerikanischem Zweitpass ist der Chef des Ganzen. Mit der Holding Massar International hat er schon eine ganze Reihe von Großvorhaben in der arabischen Welt hochgezogen. Rawabi freilich ist sein couragiertestes Projekt. Nicht allein wegen der gewaltigen Investitionssumme von über einer Milliarde Dollar, sondern weil in Palästina – bestenfalls ein Staat im Werden – alles ein Politikum ist. Schon gar der Bau einer solchen Stadt. An Besuchern aus aller Welt herrscht denn auch kein Mangel. Sogar UN-Generalsekretär Ban Ki Moon und US-Außenminister John Kerry ließen sich schon hier blicken. Alle haben Masri gratuliert.
Ein Problem aber, das die Zukunft der Stadt gefährdet, vermochte noch keiner auszuräumen. Es hat mit Ateret zu tun, einer kleinen jüdischen Siedlung, deren rote Ziegeldächer vis-à-vis auf der Kuppe des Nachbarhügels auszumachen sind. Ateret liegt im sogenannten C-Gebiet, dem komplett von Israel kontrollierten Bereich des Westjordanlandes also, und beansprucht wie alle Siedlungen einen weit ausgelegten Sicherheitsring. Dort dürfen Palästinenser ohne Erlaubnis der israelischen Militärverwaltung rein gar nichts tun.
Das Bauland von Rawabi gehört zwar zum A-Gebiet, also zur Autonomiezone, die die Palästinenser selbst verwalten dürfen. Doch die einzige Zufahrtstraße führt auf 2,8 Kilometer Länge über besagtes C-Gebiet. Die Siedler benutzen diese Verbindung nicht, aber ihre Lobby hat bisher verhindert, dass der betreffende Straßenabschnitt in autonomes Gebiet umgewidmet und verbreitert wird. Als einziges Zugeständnis gewährt Israel eine befristete Nutzungserlaubnis, die jährlich neu zu beantragen ist. Und so donnern die mit Baumaschinen und Material beladenen Schwerlaster bis heute über einen einspurigen Engpass nach Rawabi.
„Wir verlangen wirklich nicht viel“, sagt Masri und lockert mit lässiger Hand die Krawatte. „Aber die Öffnung muss bald passieren. Sonst wird diese Stadt verkrüppeln.“ 30.000 Bewohnern, die hier irgendwann leben sollen, könne man nicht zumuten, ihre gesamte Versorgung und alle ihre Wege über ein Nadelöhr von der Breite einer Dorfstraße abzuwickeln.
Es geht um die Expansion des Siedlungsbaus
Das verstehen sogar die benachbarten Siedler. Aber für die Freigabe der Straße sind sie nur, „wenn wir die gleichen Baurechte bekommen wie die Palästinenser“, wie es ihre Sprecherin Miri Ovadia formuliert. Im Klartext: Die Palästinenser sollen in eine weitere Expansion des Siedlungsbaus auf ihrem besetzten Land einwilligen.
Die aber lassen sich auf derartige Geschäfte nicht ein, und sie warten auch nicht ab, sie arbeiten weiter. Die Bauzäune haben sie mit so vielen Flaggen in den Nationalfarben Schwarz-Rot-Grün-Weiß bestückt, als feiere demnächst nicht nur die Stadt Richtfest, sondern der eigene Staat gleich mit. „Ich bin Geschäftsmann und in vielen Teilen der Welt zu Hause“, sagt Bauherr Baschar Masri. „Aber das hier ist meine Heimat.“ Genau aus diesem Grund ist er in Rawabi das größte Risiko seines Lebens eingegangen. Ob seine Landsleute, die hier ihr Geld in eine Wohnung stecken, ihn in zehn Jahren verfluchen oder ihn als Patrioten feiern werden, ist für alle Beteiligten ein Vabanquespiel. „Aber wenn wir Rawabi hinkriegen“, sinniert Masri, „dann schaffen wir das auch mit unserem eigenen Staat.“
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